Der Schatz dort draußen

Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther schreiben über die Natur als Entwicklungsraum

Das Leben sei ein Barfußpfad.

Das Leben sei ein Barfußpfad.

Wer dieses Buch gelesen hat, möchte mit seinen Kindern am liebsten sofort auf die Waldau fahren und sie dort in die spielerische Freiheit entlassen. In ihrem Ratgeber „Wie Kinder heute wachsen“ präsentieren der Kinderarzt Herbert Renz-Polster und der Hirnforscher Gerald Hüther die Natur als elementar wichtigen Entwicklungsraum für den Nachwuchs.

„Natur ist so essenziell wie gute Ernährung“, betonen die Autoren in Hinsicht auf die Kinder. „Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum.“ Denn in der Natur stoßen Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbar wichtige Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit und Bezogenheit. „Aus diesen Erfahrungen bauen sie das Fundament, das ihr Leben trägt.“

Die kindliche Entwicklung und was Kinder dabei antreibt und sie leitet – das ist der rote Faden in den acht wunderbar zu lesenden Kapiteln, in denen Eltern von heute so einiges einleuchtet. Bei dem „Schatz da draußen“ geht es den Autoren vor allem um jene Orte, an denen die Kinder alleine und in Kinder-Gruppen, häufig aber unbeaufsichtigt, elementare Erfahrungen machen können.

Dabei ist Natur häufig auch das Ungeordnete und Ursprüngliche. Kinder nutzen vor allem die wilden Teile eines Geländes, kleine Lichtungen im Gebüsch, Erdhügel, Schutthalden und all jene archaischen Lieblingsorte, die bei der Planung von Spielplätzen eher aus Versehen übrig bleiben. Solche Orte bieten Schutz und Unterschlupf, Möglichkeiten, sich zurückzuziehen und zu verstecken, aber auch Gelegenheiten für Entdeckungen und Streifzüge.

Im kindlichen Spiel wird geübt, gelernt und trainiert. Dabei geht es laut Renz-Polster und Hüther vor allem um den spielerischen Umgang mit den vier Elementen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Ins Feuer werfen die Kinder Holzscheite, blasen die Glut an, halten Stöcke hinein und braten Kartoffeln. Auf dem Wasser lassen sie Steine aufspringen, stauen einen Bach oder „angeln“ Fische und anderes Wassergetier. Auch die Erde ist ihr Element, wenn sie zwischen Fingern zerrieselt, wenn Kinder im Matsch wühlen oder einfach nur graben, graben, graben.

„Kinder leben von Erfahrungen, die unter die Haut gehen“, schreiben die Autoren – und die gibt es eben eher am Feuer im Pfadfinderlager oder auf dem Baum im Wald als auf dem langweiligen durchkonfektionierten Spielplatz um die Ecke, der eher dem Sicherheitsbedürfnis der Eltern entspricht als dem Entdeckungsdrang und der Abenteuerlust der Kinder. „Die Welt dort draußen wirkt über die ganze Bandbreite seiner Sinneskanäle auf das Kind ein“, schreiben die Autoren.

„Kinder wollen wirksam sein“, betonten Renz-Polster und Hüther. „Sie wollen mit der Welt zusammenstoßen und dabei lernen.“ Und deshalb seien die Pänz eigentlich immer auf Streifzug und suchten nach Ecken und Kanten, Hügeln und Höhlen – ob in der greifbaren Welt oder in ihrer Fantasie. Um dieses gewaltige Entwicklungspotenzial auszuschöpfen, sei Freizügigkeit vonnöten: „Denn diese vielfältigen Möglichkeiten des äußeren und inneren Erlebens kann nur nutzen, wer sich in der Natur auch frei organisieren darf.“

Dieses Überzeugungsbuch haben Renz-Polster und Hüther nicht nur für die manchmal übervorsichtigen Väter und Mütter von heute geschrieben, sondern auch für ihre eigenen Eltern: „Dafür, dass sie uns rennen ließen. Dass sie nicht fragten, wozu die Streichhölzer in der Tasche sind. Dafür, dass sie nicht an Krebs durch Feuerrauch glaubten.“

Info: Herbert Renz-Polster/Gerald Hüther, Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum, Beltz Verlag, 264 Seiten, 17,95 Euro

Wie der Beltz-Verlag mitteilt, hat die Stiftung Buchkunst hat das Sachbuch „Wie Kinder heute wachsen“ als eines der 25 schönsten deutschen Bücher in der Kategorie „Ratgeber, Sachbücher“ ausgewählt. Das Buch konnte sich gegen insgesamt 803 Bücher durchsetzen, die am Wettbewerb teilgenommen hatten. Honoriert wird mit dem Preis der Stiftung die besondere Gestaltung und Qualität eines Buches.

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